TEXT 50 JAHRE ELYSEE - VERTRAG
 

50 JAHRE ELYSEE VERTRAG 
 

FRANKREICH

Ein Vertrag, der Freundschaft stiftet

 

Der 22. Januar 1963 gilt für Deutschland und Frankreich als historisches Datum. Mit der Unterzeichnung des Elysée-Vertrags besiegelten die einstigen Erbfeinde an diesem Tag den Beginn der politischen Aussöhnung.

"Übervoll ist mein Herz und dankbar mein Gemüt", sprach Charles de Gaulle etwas pathetisch in fließendem Deutsch. Zuvor hatten der französische Staatspräsident und der deutsche Bundeskanzler Konrad Adenauer in Paris den Elysée-Vertrag unterschrieben. Dann folgten zwei Wangenküsse und eine stürmische Umarmung des Gastgebers. Der verdutzte Bundeskanzler antwortete schlicht: "Dem habe ich nichts hinzuzufügen."

Der "deutsche Michel" und die "französische Marianne"

 

Große Geste - Umarmung von Adenauer und de Gaulle

Es war ein klirrend kalter Wintertag, als der Vertrag im Pariser Elysée-Palast unterzeichnet wurde, dem Amtssitz des französischen Präsidenten. 18 Jahre nach dem Ende des Zweiten Weltkrieges verpflichteten sich die beiden Nachbarn zu Konsultationen in allen wichtigen Fragen der Außen-, Verteidigungs-, Bildungs-, Jugend- und Kulturpolitik. Regelmäßige Treffen zwischen den Regierungschefs, den Ministern sowie hohen Beamten sollten die Umsetzung des Vertrages gewährleisten. Der "deutsche Michel" und die "französische Marianne" - aus erbitterten Kriegsgegnern wurden Partner. Das war die politische Botschaft Adenauers und de Gaulles.

 

Bereits einige Jahre zuvor hatten beide Länder den Prozess der politischen Aussöhnung begonnen. Frankreichs Außenminister Robert Schumann (1948-1952) und Charles de Gaulle, seit 1958 französischer Staatspräsident, gehörten zu den treibenden Kräften. Bundeskanzler Adenauer wusste, dass er am Ende seines politischen Weges stand. Er wollte einerseits seinem Nachfolger eine stabile deutsche Außenpolitik hinterlassen, andererseits widerstrebte es ihm, Deutschland von den USA und von der NATO abzukoppeln, so wie de Gaulle es gefordert hatte.

 

Zwei Staatsmänner - eine Vision

Aber eine Vision hatte beide Männer geeint: Ein mächtiges Europa sollte nicht gegen, sondern unabhängig von den US-Amerikanern in die Weltpolitik eintreten. Dafür warben beide Staatsmänner im jeweils anderen Land:  Vom 2. bis 8. Juli 1962 stattete Bundeskanzler Adenauer Frankreich einen Staatsbesuch ab. Die gemeinsame Besichtigung der Kathedrale von  Reims unterstrich die persönliche Verbundenheit der beiden Staatsmänner. Vom 4. bis 9. September 1962 besuchte de Gaulle die Bundesrepublik und bekräftigte die Bereitschaft zur Aussöhnung.

 

Charles de Gaulle auf Staatsbesuch in Bonn

 

In Ludwigsburg wandte sich der französische Präsident an die deutsche Jugend: "Ich beglückwünsche Sie ferner, junge Deutsche zu sein, das heißt, Kinder eines großen Volkes, das manchmal im Laufe seiner Geschichte große Fehler begangen hat. Ein Volk, das aber auch der Welt geistige, wissenschaftliche, künstlerische, philosophische Werte gespendet hat."

Korrekturen im Bundestag

Für Missstimmung sorgte allerdings auf deutscher Seite, dass eine Woche vor Unterzeichnung des Elysée-Vertrages de Gaulle die Aufnahme Großbritanniens in die Europäische Wirtschaftsgemeinschaft (EWG) abgelehnt hatte. Viele Bundestagsabgeordnete sahen das Abkommen in Gefahr, zumal de Gaulle forderte, dass Deutschland sich entscheiden müsse: Gegen die USA und Großbritannien und für Frankreich mit seiner Atomstreitmacht, der Force de frappe.

 

 

Der  Deutsche Bundestag stimmte dem Vertragswerk am 16. Mai 1963 mit großer Mehrheit zu. Es wurde allerdings durch eine Präambel ergänzt, die als deutliche Kritik an der gaullistischen Politik verstanden wurde. Sie legte fest, dass Verträge mit anderen Ländern durch den Élysée-Vertrag nicht beeinträchtigt wurden. Die Bundesrepublik stand zur Partnerschaft mit Frankreich, den USA und der NATO. Am 14. Juni 1963 billigte auch die französische Nationalversammlung den Élysée-Vertrag.

Rosenphilosophie

Verträge, so Kritiker damals, seien selten von Dauer und manche verglichen das Pariser Abkommen mit Rosen, die irgendwann auch verwelken. Adenauer, selbst ein begeisterter Rosenzüchter, musste darauf antworten. "Aber die Rose - und davon verstehe ich nun wirklich etwas - ist die ausdauerndste Pflanze, die wir überhaupt haben." Adenauer sollte Recht behalten. Der Elysée-Vertrag ist bis heute ein zentrales Dokument der Aussöhnung.

 

 

Helmut Kohl und François Mitterrand beim Gipfeltreffen 1983

Dazwischen wurden seit 1988 ein gemeinsamer Verteidigungs- und Sicherheitsrat gegründet, ein Finanz- und Wirtschaftsrat sowie ein Kultur- und Umweltrat. Nach der Bildung einer gemischten deutsch-französischen Brigade wurde sogar die Aufstellung eines gemeinsamen Armeekorps beschlossen, das sich unter Einbeziehung weiterer Verbündeter zum Eurokorps entwickelt hat. Die Politikergespanne der jeweils amtierenden deutschen Bundeskanzler und französischen Staatspräsidenten - Schmidt-Giscard d'Estaing, Kohl-Mitterrand und Schröder-Chirac - nutzten das Vertragswerk und machten beide Länder zu Vorreitern der europäischen Einigung. Vor allem die Gründung des deutsch-französischen Jugendwerkes am 5. Juli 1963 sollte sich als besonders fruchtbar erweisen. Millionen Jugendliche aus beiden Ländern konnten sich seitdem kennen- und verstehen lernen.

 

50 JAHRE DEUTSCH-FRANZÖSISCHE FREUNDSCHAFT

Ein Vertrag als europäischer Bauplan

 

 

 

 

Nur 18 Jahre nach dem Zweiten Weltkrieg unterzeichneten Deutschland und Frankreich den Elysée-Vertrag. Er gilt als wichtigster Meilenstein der Aussöhnung und ist dennoch ein überraschend dünnes Papier. Was steht drin?

Der Vertrag zwischen der Bundesrepublik Deutschland und der Französischen Republik über die deutsch-französische Freundschaft ist nicht einmal sechs Seiten lang. Das schnörkellose, in sehr sachlicher Sprache abgefasste Papier wurde am 22. Januar 1963 vom deutschen Bundeskanzler Konrad Adenauer und dem französischen Staatpräsidenten Charles de Gaulle im Amtssitz des Präsidenten, dem Elysée-Palast in Paris (Bild oben), unterzeichnet. In Kraft trat der Vertrag am 2. Juli 1963. Während der Ratifizierung  hatte der Deutsche Bundestag dem Vertrag noch eine Präambel vorangestellt, in der die Bindung an den transatlantischen Partner USA und das Festhalten an der deutschen Wiedervereinigung festgeschrieben wurden. Präsident de Gaulle war verärgert, denn er sah die Architektur des Elysée-Vertrags untergraben. Schließlich wollte de Gaulle Deutschland enger an sich binden, um seine abweisende Politik gegenüber den USA und Großbritannien zu stärken.

Enge Absprachen

 

Das erste persönliche Treffen 1958: De Gaulle (li.) und Adenauer werden in Frankreich bejubelt

 

Der Vertrag regelt, dass sich deutsche und französische Regierungsvertreter in regelmäßigen Abständen treffen und absprechen sollten. Alle wesentlichen Entscheidungen in der Sicherheits- und Verteidigungspolitik sollten koordiniert werden. "Die beiden Regierungen konsultieren sich vor jeder Entscheidung in allen wichtigen Fragen der Außenpolitik...", heißt es in Artikel II des Vertrages. Das gelte besonders für alle Fragen, die mit den Europäischen Gemeinschaften, der NATO und den Ost-West-Beziehungen zu tun hätten. Ferner vereinbarten Adenauer und de Gaulle eine enge Zusammenarbeit in der Kultur- und Jugendpolitik. Austausch und Spracherwerb sollten gefördert werden. Das führte im Sommer 1993 zur Gründung des Deutsch-Französischen Jugendwerkes.

 

 

Konkrete inhaltliche Vorgaben macht der Vertrag nicht, auch politische Ziele sind nicht definiert. Der Vertrag mit seinen wenigen Paragrafen ist lediglich der Bauplan für den deutsch-französischen Motor Europas. Mit Leben wurde das Abkommen in den folgenden Jahren erst schrittweise gefüllt. 1988 setzten Bundeskanzler Helmut Kohl und Frankreichs Präsident Francois Mitterrand einen zusätzlichen Sicherheits- und Verteidigungsrat sowie einen Rat für Wirtschafts- und Finanzpolitik ein. Seit 2001 gibt es zusätzliche informelle Treffen der Regierungs- und Staatschefs, die nach dem ersten Gipfel in der französischen Stadt Blaesheim benannt sind.

Der Elysée-Vertrag ist auch nach 50 Jahren der Rahmen für die deutsch-französischen Konsultationen, deren Inhalte sich aber stark verändert haben. Ging es in den 1990er Jahren noch um die Folgen der deutschen Wiedervereinigung und die Erweiterung der EU, stehen heute die unterschiedlichen Auffassungen zur Lösung der Euro- und Schuldenkrise im Mittelpunkt.

 

Kohl (li.) und Mitterrand ergänzten den Vertrag

 

 

FRANKREICH

Kommentar: Nicht nur als Routine sehen

Trotz tagespolitischer Schwierigkeiten ist die deutsch-französische Freundschaft eine unglaubliche Leistung. Sie muss immer wieder neu erarbeitet werden, meint Bernd Riegert.

Die deutsch-französische Freundschaft darf nie Routine werden, auch nicht 50 Jahre nach der Unterzeichnung des Élysée-Vertrags durch Bundeskanzler Adenauer und Präsident de Gaulle. Jede Generation von Politikern und jede neue Generation von jungen Franzosen und Deutschen muss sich diese Freundschaft neu erarbeiten. Wer auch nur geringste Zweifel an der Schlüsselrolle Deutschlands und Frankreichs in der europäischen Einigung hat, dem sei ein Besuch am erschütternden Beinhaus in Douaumont empfohlen. Dort liegen 130.000 Gefallene aller Nationen aus der Schlacht von Verdun im Ersten Weltkrieg begraben. Dort hielten sich 1984 der französische Präsident Mitterrand und der deutsche Kanzler Kohl in einer versöhnlichen Geste an der Hand. Das Bild ging um die Welt.

Zahlreiche Soldatenfriedhöfe in Frankreich, Belgien und Deutschland sind Zeugen der mittlerweile überwundenen Feindschaft zwischen Deutschland und Frankreich. Auf den Gräbern der Weltkriege keimte die Aussöhnung, die schon Ende der 1940er Jahre mit der Gründung erster deutsch-französischer Vereine begann und 1963 in einen zwischenstaatlichen Vertrag mündete. Eine Rückbesinnung auf die Anfänge der deutsch-französischen Freundschaft und auf die Visionen des französischen Außenministers Robert Schuman in den 1950er Jahren hilft dabei, aktuelle Probleme in der deutsch-französischen Tagespolitik zu relativieren.

Begegnung der Menschen ist entscheidend

Entscheidend ist nicht, ob sich Madame Merkel und Herr Hollande gerade gut verstehen oder anschweigen. Entscheidend ist, dass sich die Menschen weiter begegnen, dass sich Schüler und Studenten beim Nachbarn ein Bild machen können, dass die Sprachen gelernt werden, dass Soldaten miteinander Dienst tun, dass Handel getrieben wird, dass Urlauber nach Berlin und Paris strömen, ohne Grenzen mit einer Währung in der Hand. Es stimmt, dass es auf höchster politischer Ebene gerade nicht so gut läuft mit dem persönlichen Verhältnis zwischen Kanzlerin und Präsident. Das sollte man aber nicht überbewerten.

Solche Phasen hat es immer wieder gegeben in den letzten 50 Jahren. Selbst de Gaulle und Adenauer waren nicht immer ein Herz und eine Seele. Bundeskanzler Brandt und Präsident Pompidou mochten einander nicht. Präsident Mitterrand und Kanzler Kohl fremdelten anfangs. Kanzler Schröder und Präsident Chirac waren sich nur in der Abgrenzung zu den USA einig. Chirac hegte vor allem Sympathie für Schröders Gattin Doris. Das einzig wirkliche Freundespaar sind Bundeskanzler Schmidt und Präsident Giscard d'Estaing, die noch heute hoch betagt gemeinsam für Europa streiten.

Braves Gedenken statt neuer Inititativen

Entscheidend ist, dass auf den politischen Arbeitsebenen dank des Élysée-Vertrags weiter beraten, koordiniert und gehandelt wird. In der Außen- und Verteidigungspolitik sind die Vorgaben des Vertrages immer noch nicht alle umgesetzt, da wäre durchaus mehr Abstimmung möglich. Dass Frankreich und Deutschland aktuell in der Euro-Schuldenkrise unterschiedliche Ansätze verfolgen ist auch richtig, aber die große Linie stimmt und die heißt: Mehr Europa! Allerdings wird es in diesem Jahr keine entscheidenden Impulse geben, denn der französische Sozialist Hollande setzt darauf, dass die deutsche Konservative Merkel nach den Wahlen im Herbst durch einen Sozialdemokraten ersetzt wird. Merkel hatte im vergangenen Jahr ganz unverblümt für Hollandes politischen Gegner Sarkozy geworben und aufs falsche Pferd gesetzt. Das rächt sich jetzt. Deshalb gibt es zum Jubiläum weder aus Berlin noch aus Paris neue politischen Initiativen, sondern hauptsächlich braves Gedenken.

Egal welche politische Partei oder Koalition gerade den Ton angibt, Frankreich und Deutschland müssen und werden der Motor der Europäischen Union bleiben. Das wollen alle beteiligten Politiker an Spree und Seine und das wissen auch die europäischen Nachbarn. Die klagen oft, das Tandem Deutschland-Frankreich würde diktieren. Führen die beiden Staaten aber nicht, so wie jetzt, dann hört man die Beschwerde, Europa habe seinen Kompass verloren. Diese verschiedenen Erwartungen und Ansprüche auszutarieren, wird für deutsche Kanzler oder Kanzlerinnen und französische Präsidenten oder Präsidentinnen immer eine schwierige Aufgabe bleiben.

Vorbild für den Balkan?

Die weltweit einmalige enge Zusammenarbeit zwischen Deutschland und Frankreich kann auch Vorbild für andere Staaten sein, die ihre Konflikte noch nicht vollständig gelöst haben. Da braucht man gar nicht so weit zu gehen, sondern sich nur den Balkan anzuschauen. Sollte es nicht möglich sein, zwischen Serben und Kosovaren, zwischen Bosniern und Serben, zwischen Mazedoniern und Griechen, zwischen Türken und Zyprern eine Versöhnung und Zusammenarbeit zu stiften wie zwischen Deutschen und Franzosen?

Die Vision Robert Schumans muss für alle Völker Europas und vielleicht auch darüber hinaus gelten: Krieg zwischen Nationen muss unmöglich gemacht werden durch engste Beziehungen, so der französische Außenminister 1950: "Europa lässt sich nicht mit einem Schlage herstellen und auch nicht durch eine einfache Zusammenfassung. Es wird durch konkrete Tatsachen entstehen, die zunächst eine Solidarität der Tat schaffen." Daran muss man auch in den nächsten 50 Jahren arbeiten. Immer wieder aufs Neue.EUROPÄISCHE UNION

 

 

Cohn-Bendit: "Paris und Berlin ohne Kompass"

 

 

 

 

 

 

 

Die deutsch-französische Freundschaft bezeichnet der EU-Parlamentarier Cohn-Bendit als unglaubliche Leistung. In der Europapolitik hätten aber beide Länder die Orientierung verloren, kritisiert er im DW-Interview.

Deutsche Welle: Herr Cohn-Bendit, sind Sie in Feierlaune?

Daniel Cohn-Bendit: In Feierlaune?

Der deutsch-französische Elysée-Vertrag ist im 50. Jahr seines Bestehens. Das wird groß gefeiert. Wie nehmen Sie dieses Ereignis wahr?

Das, was man unter dem Elysée-Vertrag versteht, das heißt, diese deutsch-französische Befriedung, ist natürlich eine zivilisatorische Leistung. Das, was wir heute haben, ist unglaublich, wenn man sich vergegenwärtigt, woher diese beiden Länder kommen.

Wie hat sich die Beziehung entwickelt? Derzeit diskutiert man ja über das angespannte Verhältnis zwischen Staatspräsident Hollande und Kanzlerin Merkel. Ist das noch die viel beschworene deutsch-französische Freundschaft?

 

 

Merkel und Sarkozy im Seebad Deauville

ich bin immer verblüfft, dass man die Frage der Freundschaft an dem Zustand der beiden Regierungen misst. Es gibt zwei Regierungschefs, die können sich verstehen oder nicht. Das ist eigentlich völlig egal. Sie können sich politisch verstehen, sie können sich menschlich verstehen oder nicht. Aber ich glaube, dass die französische und die deutsche Gesellschaft einen ganz selbstverständlichen, unverkrampften Umgang miteinander haben, und dies ist fest verankert. Und das wird nicht dadurch verändert, ob Frau Merkel Herrn Sarkozy mag oder Hollande Frau Merkel versteht oder nicht. Das heißt, wir haben heute eine deutsch-französische Normalität, jenseits dessen, was Regierungen tun und denken oder tun wollen.

Besteht diese Normalität der Beziehungen auch jenseits der Ereignisse der letzten Jahre? Ich meine damit die Eurokrise - hat sie den Blick der Franzosen auf die Deutschen verändert?

Man kann natürlich sagen, dass die Eurokrise und die Position, die Deutschland eingenommen hat, eine ganze Anzahl von Franzosen befremdet. Vielleicht sogar die Mehrheit der Franzosen. Aber das sind normalpolitische Spannungen. Es gibt auch Spannungen in Frankreich, Deutschland oder wo auch immer zwischen rechts und links. Aber das ist keine Aussage oder kein Maßstab über diese Normalität. Es ist auch normal, dass sich bestimmte politische Mehrheiten in einem Land konstituieren. Und wenn in dem Moment ein anderes Land eine andere Vorstellung von politischen Notwendigkeiten hat, gibt es eine politische Spannung, aber das ist keine gesellschaftliche Spannung.

Dann werfen wir doch mal einen Blick auf die Gesellschaft: auf die Menschen in beiden Ländern abseits der großen Politik. Ist es denn so, dass die Deutschen von den Franzosen gelernt haben und die Franzosen auch ein Stück weit deutscher geworden sind?

Ich glaube, das ist eine abstrakte journalistische Frage.

Diese Frage stelle ich Ihnen gerne.

(Lachend) Klar hat sich die deutsche Gesellschaft geöffnet. Die Globalisierung in Deutschland fing mit der Öffnung gegenüber den unmittelbaren Nachbarn an. Dadurch, dass man in den Ferien nach Frankreich gefahren ist, französisches Essen in Deutschland Einzug gehalten hat und französischer Wein eine wichtige Rolle spielt. Dies alles hat den Alltag normalisiert. Gleichzeitig sehen die Franzosen - manchmal neidisch, manchmal vielleicht ein bisschen befremdet -, wie effizient die Deutschen sind. Gerade in der Wirtschaftspolitik. Und deshalb glaube ich, dass beide Gesellschaften interessiert bis misstrauisch auf den anderen schauen.

Nach einer neuen Umfrage mögen die Deutschen die Franzosen mehr als umgekehrt.

Ich habe diese Umfrage gesehen. Es gibt aber eine Realität, die der Umfrage widerspricht: die Anzahl der jungen Franzosen in Berlin! Es gibt eine Faszination in Europa und in Frankreich für Berlin. Für die Stadt Berlin, für den Lebensstil Berlin. Für das, was Berlin kulturell ausmacht und sich im Lebensstil ausdrückt.

Was ist das genau, was Berlin für die jungen Franzosen ausmacht?

Berlin ist eine absolut coole, offene, kulturelle Stadt. Da geht der Punk ab! Ich bin davon immer fasziniert. Ich werde ja nicht Wahlkampf machen. Wenn, müsste ich das in Berlin machen. Da hätte ich viele Wählerinnen und Wähler.

Sie haben sich mehrfach vehement gegen die Nationalstaaterei ausgesprochen und ein föderales Europa der Regionen gefordert. Welche Rolle würde dabei der deutsch-französische Motor spielen?

 

Das Interessante ist immer, dass die Deutschen vom deutsch-französischen Motor und die Franzosen vom deutsch-französischen Tandem sprechen. Es wird keinen Schritt hin zu einer Vertiefung der Europäischen Union, zu einer Föderalisierung geben ohne eine gemeinsame Position Deutschlands und Frankreichs. Aber das genügt nicht mehr. Das heißt, in einem Europa der 27 Staaten reicht eine Einigung Deutschlands und Frankreichs nicht mehr. Damit ist nicht sicher, dass eine bestimmte Entwicklung eingeleitet wird. Das ist etwas, was Deutschland und Frankreich lernen müssen oder die politisch Handelnden, die Regierungen. Sie müssen eine Intelligenz entwickeln, wie sie gemeinsam die anderen Länder mitnehmen. Wenn man an die unmittelbare Geschichte Merkozy, also Merkel und Sarkozy, denkt: Das war das genaue Gegenteil. Die haben geglaubt, sie treffen sich im Schatten des Kasinos von Deauville, beschließen etwas und dann läuft der Punk. Und da ist nix gelaufen. Das ist etwas, was Deutschland und Frankreich noch lernen müssen.

Glauben Sie, dass Deutschland und Frankreich in Bezug auf die Entwicklung in Europa noch Motor oder eher Bremser sind?

Das Problem ist, dass sie nicht genau wissen, was sie wollen. Wenn man nicht weiß wohin, kann man auch nicht die richtige Richtung einschlagen. Und den politisch handelnden Personen fehlt der Kompass. Wir sind im Nebel, und wenn Sie keinen Kompass haben, rennen Sie im Kreis. Sie kommen immer an den Ausgangspunkt zurück. Das ist das Gefühl, was viele Menschen haben. Die Deutschen und Franzosen wissen nicht weiter. Sie haben keine Orientierung, und deshalb können sie keine Vorschläge machen.

Ist das angesichts der Eurokrise nicht zu viel verlangt? Alle sind in diese Krise förmlich hineingestolpert. Niemand hat die Erfahrung, wie man mit einer solchen fundamentalen Krise umgehen soll. Sind europäische Politiker überhaupt in der Lage, dieses Problem auf Anhieb zu meistern?

Sicher ist das viel. Nur: If you can't stand the heat, get out of the kitchen. If you can't do it, geh' Fußball spielen. Es ist nun mal der Anspruch, dass man mit einer Politik aus der Krise heraus will. Und wenn man sich überfordert fühlt, was ich verstehen kann, dann soll man Murmeln spielen gehen.

Da wir gerade bei Ansprüchen sind - wenn Sie in Bezug auf die deutsch-französische Freundschaft einen Wunsch frei hätten: Was würden Sie beiden Ländern mit auf den Weg geben?

Eins würde ich machen: Ich würde eine Idee "Europa von unten" oder "Europa für alle" anstoßen. Wie das EU-Erasmus-Programm, das es Studenten ermöglicht, im Ausland zu lernen. Aber für alle, nicht nur für Studenten. Also dass Deutschland und Frankreich in Europa die Möglichkeit des Austausches vorantreiben, dass alle, die studieren, die eine Lehre machen, die eine Arbeit haben, ein Jahr lang in Europa arbeiten oder eben studieren können. Ich wünsche mir, dass wir Finanzen bereitstellen, um die Mobilität und das gegenseitige Erfahren rapide zu steigern.

Daniel Cohn-Bendit (geboren am 4. April 1945 in Montauban/Frankreich) ist stellvertretender Fraktionschef der Grünen im Europaparlament und Mitglied der deutschen Grünen. Im Mai 1968 war er der prominenteste Sprecher der Studenten während der Unruhen in Paris. Nach seiner Ausweisung aus Frankreich ging er nach Deutschland. In der linken Szene von Frankfurt am Main spielte er in den 70er Jahren eine führende politische Rolle. Gemeinsam mit Joschka Fischer engagierte er sich in der alternativen Bewegung. 1984 trat er den Grünen bei. 1994 wurde er in das Europäische Parlament gewählt. Er kandidierte abwechselnd für die deutschen und die französischen Grünen. Cohn-Bendit schrieb zahlreiche politische Bücher und ist Moderator in verschiedenen Fernsehsendungen. Der 67-Jährige wohnt in Frankfurt, ist deutscher Staatsbürger und hat einen Sohn.

GESELLSCHAFT

Franzosen sehen Deutschland positiver

 

Das Deutschlandbild in Frankreich wandelt sich - das ergab eine Umfrage zum 50. Jahrestag des Elysée-Vertrags. Die Franzosen finden das Nachbarland deutlich attraktiver als in der Vergangenheit.

Die Sympathie ist gegenseitig: 82 Prozent der deutschen Befragten geben an, das Nachbarland sehr oder sogar leidenschaftlich zu mögen, bei den Franzosen sind es 73 Prozent. Insgesamt nehmen die Franzosen Deutschland deutlich positiver wahr als bei vergleichbaren Befragungen in der Vergangenheit. Das ergab eine Online-Umfrage, die von deutschen und französischen Medien gemeinsam entworfen und betreut wurde.

Mehr als 25.000 Deutsche und Franzosen haben den im Internet abrufbaren Fragebogen ausgefüllt - nach Angaben der Verantwortlichen ein "außergewöhnlich hoher Rücklauf". Dennoch handele es sich nicht um eine repräsentative Umfrage, sondern um ein Stimmungsbarometer. "Es ist eine Elitenbefragung", sagt Sabine von Oppeln, Politikwissenschaftlerin an der Freien Universität Berlin. Denn es hätten vor allem Menschen teilgenommen, die sich ohnehin für das jeweils andere Land interessierten.

Der Krieg tritt in den Hintergrund

Die Ergebnisse hält die Wissenschaftlerin dennoch für höchst aufschlussreich. So spielt die Kriegsvergangenheit in der gegenseitigen Wahrnehmung eine schwindende Rolle. 46 Prozent der Franzosen und 45 Prozent der Deutschen denken nicht mehr an die beiden Weltkriege, wenn es um das Nachbarland geht. 50 Jahre, nachdem Bundeskanzler Konrad Adenauer und der französische Präsident Charles de Gaulle mit dem Elysée-Vertrag die Zusammenarbeit auf neue Füße stellten, wird der Blick eher nach vorne als in die Vergangenheit gerichtet.

Dabei spielen Stereotpyen allerdings immer noch eine Rolle. "Franzosen nehmen Deutschland als das Land des ökonomischen Erfolgs, der Beschäftigung und der Umweltschützer wahr", fasst von Oppeln die Ergebnisse zusammen. "Frankreich sammelt Pluspunkte im Bereich der Kultur, der Familienpolitik und der allgemeinen Lebensqualität."

Die Faszination für Deutschland wächst

Neu ist hingegen, dass Deutschland als Wohn- und Arbeitsort für Franzosen immer attraktiver wird. "Das Bild vom kalten und hässlichen Deutschland spielt nicht mehr eine so große Rolle", sagt von Oppeln. Knapp 60 Prozent der befragten Franzosen können sich vorstellen, in Deutschland zu leben oder zu arbeiten, fast 78 Prozent würden gerne Urlaub im Nachbarland machen. Kurz vor dem Mauerfall 1989 war Deutschland nur 28 Prozent der Franzosen eine Reise wert. "Von einer Krise in der deutsch-französischen Zusammenarbeit", so das Resümee der Wissenschaftlerin, "ist in diesem Stimmungsbarometer jedenfalls nichts zu bemerken".